Zeiten und Strukturen.
Skulptur, Plastik und Fotografie.
Einzelausstellung, Rathausgalerie, Vellmar, 2016.
Berthold Grzywatz
Zeiten und Strukturen
Wie selbstverständlich nimmt unser Bewusstsein stetig auf die Zeit Bezug. Wir denken an gestern, heute und morgen, vergewissern uns über das Jetzt und erinnern uns an das Einst. Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges begleiten unser Handeln und selten erleben wir die Zeit als ein lineares Geschehen, das einem ihr selbst innewohnenden Rhythmus folgt. Die Zeiten ändern sich, mit dieser Redewendung verweisen wir auf die Erfahrung der Zeit und das Handeln in der Zeit; zugleich machen wir deutlich, dass unser Denken nicht von der Zeit zu trennen ist. Durch das Bewusstsein der Gegenwart ist uns das Denken des Vorher und Nachher gegeben, das Bewusstsein von früherem und späterem Geschehen ermöglicht uns das Einordnen; das Bewusstsein der Zeit schließt den Menschen als solchen ein, was er ist und was er werden kann.
Wenn wir davon ausgehen, dass Zeit und Handeln zusammengehören und wir zudem um die Zeit wissen, mithin durch Wissen in der Zeit handeln, müssen wir anerkennen, dass unser menschliches Sein ethisch bestimmt ist. Als handelnde Subjekte haben wir Einsicht in das, was sein kann, sowie in das, was sein soll. Unsere Gegenwart, das Jetzt ist nie ohne Maß, denn wir erinnern uns in der Gegenwart an das Vergangene und erwarten zugleich etwas Kommendes, also etwas Zukünftiges, was möglicherweise von uns antizipiert wird.
Begreifen wir die Wirklichkeit als einen Geschehenszusammenhang, in dem wir als Menschen handelnd auf die vorgegebenen Dinge Einfluss nehmen und gleichzeitig die Dinge unser Handeln mitbestimmen, ist die Wirklichkeit schon immer mit der Geschichte verknüpft. Durch das Nachdenken über die „Zeit“, das Erinnern an Handeln und Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext werden wir uns in einem Akt der Selbsttätigkeit der Freiheit bewusst. Wir nehmen unsere Zeit wahr, nicht in Form einer Anpassung an vorgegebene Strukturen, sondern als kritische Einstellung zum Geschehen. Dieses Verstehen können wir als „Vergeschichtlichung“ fassen, das heißt unser Handeln ist unmittelbar mit der Frage nach dem Sinn unserer Existenz und der zeitlichen Beschaffenheit dieser Existenz verbunden.
Nun ist offensichtlich, dass die Einsicht in die Zeit oder die Zeiten nicht allen Menschen gleichermaßen zugängliche Möglichkeit ist. Das Denken unterliegt ja selbst der Zeit. Es ist im Werden, und von daher wird die Wirklichkeit verschieden begriffen. Das Denken bleibt in Form und Gestalt unterschiedlich, somit kann das Erfassen der Zusammenhänge angemessen oder unangemessen sein. Wir neigen als Menschen dazu, uns nur auf die Gegenwärtigkeit einzustellen und uns im Nahhorizont unserer eigenen Umwelt zu bewegen bzw. uns über diesen Bereich hinausgehende Fragen nicht zu stellen. Wenn das Denken außerdem einer Entwicklung unterliegt, ist es von den Bedingungen des gesellschaftlichen und sozialen Seins abhängig, das unterschiedliche Möglichkeiten und Erfahrungen von Bildung eröffnet, ohne die die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der Zeit und ihren Zusammenhängen nicht zu erwerben ist.
Vor diesem Hintergrund gibt es unabhängig von geschichtsphilosophischen oder wissenschafts-theoretischen Erwägungen eine Tendenz, die Wirklichkeit durch gegebene Strukturen und Sachzwänge gesteuert zu sehen. Diese Ansicht kann in unserer durch Technologie und Wissenschaft geprägten Zeit soweit gehen, dass die Wirklichkeit als ein zur Selbstkorrektur fähiges System begriffen wird, welches dem Menschen jede Möglichkeit nimmt, das Geschehen durch freies Handeln zu bestimmen. Berthold Grzywatz hat diese resignative Auffassung im Bild der „verordnete(n) Existenz“, so der gleichnamige Titel eines Lyrikbandes, kritisch zu umschreiben versucht. Beharren wir demge-genüber auf das Handlungs-bewusstsein des Menschen vor dem Hintergrund des geschichtlich-gesellschaftlichen Seins und seine Kompetenz zur Selbsttätigkeit, kann dies nicht bedeuten, uns in der Gestaltung von Geschichte jenseits aller Voraussetzungen zu sehen. Wir können nur in der Zeit handeln, all unser Tun kann nur zeitgemäß sein, weil das Geschehen in der Zeit uns Bedingungen auferlegt, wie wir dieses Geschehen durch unser Handeln bedingen.
Wenn wir allerdings über unseren unmittelbaren Handlungsbereich hinaussehen, an das politische Geschehen denken, insbesondere in globalen Zusammenhängen, dann stellt sich schnell ein Gefühl menschlicher Ohnmacht ein: die Verhältnisse mögen weder zu durchschauen sein noch wollen sie unserem Einfluss unterliegen. Angesichts gegenwärtiger Kriegs-schauplätze, der Wirkungen des religiös begründeten Terrorismus und in der Folge des Millionenheers von Flüchtlingen, die überraschend in Europa Einlass finden wollen, können wir das in unserer Zeit ebenso nachvollziehen wie wir das Bedürfnis nach dem Auswechseln ethischer Grundsätze durch schematisierte, planbare technisch-funktionale Problemregelungen erkennen können. Mag in Anbetracht der nicht enden wollenden Krisensituationen unserer Zeit das Moment der Ohnmacht in Wahrnehmen und Denken häufig wieder einen vorrangigen Platz einnehmen, unser Handlungsbewusstsein, unsere Pflicht zur Einflussnahme auf die Gestaltung des geschichtlichen Geschehens darf dadurch nicht verneint werden. Die Menschen müssen handeln, hat Jean Paul Sartre einmal gesagt, und als Handelnde müssen sie sich notwendig „die Hände schmutzig machen“, womit er gegen einen Rückzug aus der Politik auf Grund ethischer Vorbehalte argumentiert. Diese Ansicht ließe sich dahingehend erweitern, dass wir unser Handeln stets im Bewusstsein seines Scheiterns vollziehen. Was uns aber nicht abhalten kann, aus Verantwortung mit dem Hoffen auf ein Gelingen tätig zu werden.
Der Bezug zur Zeit bzw. zu Zeiten, das das Tatsächliche der Gegenwart mit dem Notwendigen der Vergangenheit und dem Möglichen der Zukunft verbunden ist, stellt ein allgegenwärtiges Anliegen in den künstlerischen Arbeiten von Berthold Grzywatz dar – man kann es getrost gleichfalls in seinen lyrischen und erzählerischen Werken suchen. Dabei sucht er unter einer universellen Perspektive das Ich, seine Beschädigungen im Scheitern, aber auch sein Beharren, sich den eigenen Herausforderungen zu stellen, in den Blick zu nehmen. Bei allen kritischen, mitunter pessimistischen Vorbehalten mündet diese Auseinandersetzung nicht in der Resignation, vielmehr bleibt das künstlerische Sein durch die Maxime geprägt: „Wir haben zu handeln, als ob alles nur an uns läge“, wie der Tübinger Philosoph Walter Schulz bemerkt hat.
Der Hinweis auf Strukturen darf nicht als das Sichtbarmachen von Grundmustern des Realen missverstanden werden, die unser Leben nachhaltig und unverrückbar bestimmen. Vielmehr gilt es unter diesem Blickwinkel, den Dingen nachzugehen, sie in ihren Zusammenhängen zu isolieren, um dadurch neue Sichtweisen zu begründen. Die Strukturen mögen vorgegeben sein, durch den künstlerischen Zugriff erhalten sie ein anderes Sein, das unser Sehen der Objekte verändert. Es kann Impuls für eine allgemeinere Perspektive sein, so jedenfalls die Hoffnung des Künstlers, nämlich über das visuelle Erleben das anzustoßen, was möglicherweise möglich ist.