Berthold Grzywatz
COVID 2020
Vom Umgang mit dem Unerwarteten -
ein Versuch
Was tun? In der Krise! Ausstellung abgesagt. Kein Kontakt zum Publikum - allenfalls virtuell, ohne direkte Rückkoppelung oder Dialog. Im Vordergrund: die Krisenbewältigung. Was bleibt? Die künstlerische Kreativität! Nachdenken - und angesichts des Leidens mit Demut in die Werkstatt gehen. Kunst schaffen in der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Geschehen. Einen solchen Versuch habe ich unternommen und mich dabei zunächst auf literarische Beispiele bezogen, die sich mit dem Phänomen der Seuche als Krisenerfahrung ausein-andersetzen. Anschließend habe ich versucht, die literarische Rezeption und die Aktualität einer Pandemie in einem skulpturalen Versuch umzusetzen.
I Die Seuche als kollektives Ereignis – literarische Reflexion
Monsieur Rieux wusste, dass der Bazillus niemals ausstirbt oder verschwindet und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem er zum Unglück und zur Belehrung die Menschen erneut wecken wird, so das, hier leicht abgewandelte, Resümee des aufgeklärten Skeptikers in Albert Camus‘ Roman „Die Pest“. Für Camus ist die Seuche eine Allegorie auf die moderne Zeit zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit nationalsozialistischer Aggression, Konzentrationslager, Völkermord, Atombombe und die Gefahr eines dritten Weltkriegs. Eine Allegorie auf eine Zeit der Unmenschlichkeit, gegen die man sich nur mit der wertsetzenden moralischen Kraft des Einzelnen, seiner gelebten Humanität, behaupten konnte.
Jens Peter Jacobsen hatte 65 Jahre früher in seiner Novelle „Die Pest in Bergamo“ massenpsychologisch analysiert, dass die Seuche Ängste schürt, die sich einerseits in Enthemmung, andererseits in unmenschlicher Buße äußern. Die Gefährdung der gewohnten Lebenswelt durch nicht steuerbare Phänomene der Natur erzeugt Verunsicherungen, die um die Befindlichkeit des eigenen Ichs kreisen und die gesellschaftliche Solidarität erschüttern.
Noch früher, nämlich 225 Jahre, publizierte Daniel Defoe 1722 sein „Tagebuch aus dem Pestjahr“. In Form eines Augenzeugenberichts schildert er kritisch analysierend und wirklichkeitsnah die Ereignisse der Pest von 1665 in London, die er allenfalls als Kind erlebt haben konnte. Der Erzähler, wie bei Camus ein aufgeklärter, skeptischer Realist, rekonstruiert ebenso nüchtern wie plausibel die Massenkatastrophe einer Seuche. Nicht zuletzt widmet er sich den Verhaltensweisen der Menschen in der Seuchenzeit. Wir erfahren Eindringliches über Isolation, die Ödnis des städtischen Lebens, über die Fragwürdigkeit statistischer Veröffentlichungen und medizinischer Angebote, über die Folgen familiärer Isolierung, Fluchtbewegungen und Rettungsversuche, über religiösen Fatalismus, Aberglauben und Sorglosigkeit, über die Wirkung von Gerüchten und ihre Entstehung, aber auch über das entschlossene Handeln der Behörden. Am Ende blicken wir auf eine Situation zwischen Furcht und Hoffnung zurück, die menschliche Inkonsequenz angesichts der Katastrophe nicht ausspart, gleichwohl indessen an der Durchsetzung der Vernunft festhält.
Selbst im Zeitalter wissenschaftlicher Aufgeklärtheit steht die Rationalität des Handelns in Frage – jenseits der individuellen Bildung. Und wenn die aktuelle Krise überwunden ist, was folgt dann? Das Vergessen oder vielleicht doch eine Schärfung des Krisen-bewusstseins? Eine Erinnerung: In unserer globalisierten Welt hungern über 800 Millionen Menschen, 2 Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Das Ziel, den Hunger bis zum Jahr 2030 zu beseitigen, ist mehr als gefährdet.
II Die künstlerische Reaktion
Hier nun eine Reaktion auf die Leiden angesichts der viralen Seuche mit den Mitteln des Bildhauers. Ausgangspunkt meiner Arbeit ist die Vorstellung eines geschwächten Menschen, der sich einer infektiösen Infiltration ausgesetzt sieht: dem Eindringen eines Virus in ein lebenswichtiges Organ, das mit multiplen Organversagen und septischem Schock enden kann.
Im Werk werden die Materialien Holz, Edelstahl und Lack miteinander kombiniert. Mit dem Holz baue ich ein plastisches, farblich gestaltetes Element auf, das sich auf einer Edelstahlbasis erhebt und von Edelstahlstäben durchzogen wird.
Das Werkstück aus Buchenholz zeigt eine leicht gekrümmte Form mit dem Schwerpunkt auf der Edelstahlbasis: ein auf den Kopf gestellter Mensch. Da seine Gesundheit unterwandert wird, scheint der aufrechte Gang, d. h. das Fortschreiten in seinem individuellen Leben, nicht mehr möglich zu sein. Der verfremdende Effekt des farblichen Lacks verweist auf die Anonymität und die massenhafte Erscheinung seines Falls.
Die gebogene Holzform ist von breiten, lochartigen Öffnungen durchsiebt: Der abwehrgeschwächte Körper sieht sich schutzlos dem Eindringen des Virus ausgesetzt; im Blutstrom setzt es seinen Weg in weitere Organe fort und verdichtet die Entzündungsprozesse.
Durch einzelne Öffnungen werden Stangen aus Edelstahl geführt, die rhythmisch gestaffelt angeordnet sind: ein Symbol sowohl des Scheiterns, mithin des infolge des Lungenversagens eintretenden Todes, als auch der Hoffnung, da die wissenschaftlich geleiteten Eingriffe der Medizin eine Abwehr aufbauen.
Bei aller gesundheitlichen Gefährdung bleibt der Ausgang offen. Dem Dahinsiechen kann ein Ende gesetzt, ein Weiterleben ermöglicht werden. Die individuelle Krise, die als Teil einer Pandemie zugleich gesamtgesellschaftlich und global daherkommt, gewinnt aber nur dann Relevanz für die Zukunft, wenn diese Erfahrung ein nachhaltiges Bewusstsein für die Gefährdungen des menschlichen Miteinanders gewinnt, das sich in Handlungsorientierung niederschlägt.
III Skulpturaler Entwurf
Für die endgültige Ausführung wird die Edelstahlbasis noch herzustellen sein. Zudem soll der plastische Körper noch mit zwei weiteren polierten Stäben aus Edelstahl verbunden werden. Anschließend wird es einen weiteren Versuch einer fotoskulpturalen Realisation des Werks geben.
IV Skulptur
Der mit einem Metalleffektlack (Perlglanz) bearbeitete Holzkorpus wurde mit neun Edelstäben verbunden und so angeordnet, dass er über der Basis (Edelstahl, längsseitig abgeschrägt) schwebt. Die Anordnung der Stäbe wurde bewusst nur annähernd symmetrisch ausgeführt.
Berthold Grzywatz
COVID 2020
Dealing with the unexpected - an experiment
What to do? In the crisis! Exhibition cancelled. No contact with the public - at best virtually, without direct feedback or dialogue. In the foreground: crisis management. What remains? Artistic creativity! Reflection - and entering the workshop with humility in the face of suffering. Creating art in dialogue with current events. I have made such an attempt, initially referring to literary examples that deal with the phenomenon of the pandemic as an experience of crisis. I then attempted to translate the literary reception and the actuality of a pandemic into a sculptural experiment.
I The pandemic as a collective event - literary reflection
Monsieur Rieux knew that the bacillus would never die out or disappear and that perhaps the day would come when it would once again awaken people to misfortune and disillusionment, according to the slightly modified summary of the enlightened sceptic in Albert Camus' novel “The Plague”. For Camus, the plague is an allegory of the modern era in the middle of the 20th century with National Socialist aggression, concentration camps, genocide, the atomic bomb and the threat of a third world war. An allegory of a time of inhumanity, against which one could only assert oneself with the value-setting moral power of the individual, his lived humanity.
In his novella ‘The Plague in Berga-mo’, Jens Peter Jacobsen had analysed mass psychology 65 years earlier, showing that the pandemic fuels fears that manifest themselves in disinhibition on the one hand and inhuman penitence on the other. The threat posed to the familiar world by uncontrollable natural phenomena creates insecurities that revolve around the state of the self and shake social solidarity.
Daniel Defoe published his ‘Diary of the Plague Year’ even earlier, 225 years earlier, in 1722. In the form of an eyewitness account, he describes the events of the plague of 1665 in London, which he could only have experienced as a child, in a critically ana-lysing and realistic manner.
The narrator, like Camus an enlightened, sceptical realist, reconstructs the mass catastrophe of an epidemic both soberly and plausibly. Last but not least, he focuses on people's behaviour during the epidemic. We learn vividly about isolation, the desolation of urban life, the questionability of statistical publications and medical offers, the consequences of family isolation, escape movements and rescue attempts, about religious fatalism, superstition and carelessness, about the effect of rumours and their origin, but also about the decisive action of the authorities. In the end, we look at a situation between fear and hope, which does not omit human inconsistency in the face of catastrophe, but nevertheless clings to the assertion of reason.
Even in the age of scientific enlightenment, the rationality of action is in question - beyond individual education. And once the current crisis has been overcome, what will follow? Forgetting or perhaps a sharpening of crisis awareness? A reminder: In our globalised world, over 800 million people are starving and 2 billion people are suffering from malnutrition. The goal of eradicating hunger by 2030 is more than jeopardised.
II The artistic reaction
Here is a reaction to the suffering caused by the viral pandemic using the means of the sculptor. The starting point of my work is the idea of a weakened person who is exposed to an infectious infiltration: the penetration of a virus into a vital organ, which can end in multiple organ failure and septic shock.
The materials wood, stainless steel and lacquer are combined in the work. I use the wood to create a sculptural, colourful element that rises up from a stainless steel base and is interwoven with stainless steel rods.
The beech wood piece has a slightly curved shape with the centre of gravity on the stainless steel base: a human being standing on his head. As his health is undermined, walking upright, i.e. progressing in his individual life, no longer seems possible. The alienating effect of the coloured paint refers to the anonymity and mass appearance of his fall.
The curved wooden form is riddled with wide, hole-like openings: the weakened body's defences are exposed to the penetration of the virus without protection; it continues its journey in the bloodstream to other organs and intensifies the inflammatory processes.
Stainless steel rods are passed through individual openings, arranged in a staggered rhythm: a symbol both of failure, i.e. death resulting from lung failure, and of hope, as the scientifically guided interventions of medicine build up a defence.
Despite all the health risks, the outcome remains open. It is possible to put an end to the dying process and make it possible to live on. However, the individual crisis, which as part of a pandemic is simultaneously social and global, only gains relevance for the future if this experience creates a lasting awareness of the dangers to human coexistence, which is reflected in an orientation for action.
III Sculptural design
The stainless steel base still needs to be produced for the final version. In addition, the sculptural body will be connected with two further polished stainless steel rods. There will then be another attempt at a photo-sculptural realisation of the work.
The wooden body, finished with a metal-effect lacquer (pearlescent), was connected with nine stainless steel rods and arranged so that it floats above the base (stainless steel, bevelled on the long side). The arrangement of the rods was deliberately designed to be only approximately symmetrical.
Telse Katrin Polenski - 24361 Groß Wittensee
Corona-Hase
Finelinerzeichnung, digital bearbeitet
Martin Musiol - 25421 Pinneberg
Durchbruch und Durchbruch 1 - 3
Wellpappe, gerissen, geschnitten, arrangiert und geklebt
Cornelia Wilke-Leptin
Ohne Titel
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Coronawirbel I und II
Jan Maria Dondeyne, 35644 Hohenahr-Altenkirchen
Point of no return - kein Weg zurück
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Jörg Kaminski, 23701 Eutin
14042020146, Öl/Acryl auf Leinwand, 80 x 120 cm
Christa Landig, 24539 Neumünster
Am Rande des Abgrunds - was kommt danach
Mischtechnik auf Leinwand, 60 x 60 cm
Mathias Wolf, 24321 Darry
Absurd
Objekt (Milchkanne, Toilettenpapier), 50 x 27 cm
Barbara Schael, 24620 Bönebüttel
Ich pfeife trotz Corona
Farbholzschnitt auf Papier, 30 x 25 cm
Sabine Ruhle, 22391 Hamburg
Bald wieder zusammen
Kettensägenschnitt, Lindenholz
Margrit Schoennagel, 24536 Neumünster
Immun?
Acryl, Ölkreide auf Leinwand, 60 x 40 cm
Helga Helmig, 24145 Kiel
Viruswege I, Viruswege II
Acryl auf Leinwand, 60 x 30 cm