Berthold Grzywatz
Absonderung, Aufnahme und Wieder brauchbar machen. Zum Le-ben von Arthur-Georges Goldschmidt
Georges-Arthur Goldschmidt durchlebte eine Kindheit am Rande des Holocaust, wie es der einstige Vizepräsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages und Sohn der älteren Schwester, Detlev Landgrebe, einmal charakterisiert hat. Georges-Arthur Goldschmidt, vor den Toren Hamburgs 1928 in Reinbek geboren, stammt aus einer jüdischen Familie, die bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die jüdische Gemeinde verlassen hatte und schließlich der evangelischen Kirche beigetreten war. Sein Vater (1873-1947), dessen Berufsweg als Jurist im Jahre 1917 mit der Ernennung zum Richter am Oberlandesgericht Hamburg einen erfolgversprechenden Weg nahm, engagierte sich in der Weimarer Zeit in der Gemeindepolitik seines Heimatortes. Politisch gehörte er eher zur rechten Mitte. Das wird durch seine Mitgliedschaft in der liberal-konservativen Deutschen Volkspartei dokumentiert.
Die Einbindung der Familie Goldschmidt in die deutsche Gesellschaft durch den Übertritt zum Christentum erwies sich nach der Begründung der NS-Herrschaft nicht als Pfand einer gesicherten bürgerlichen Welt. Schon dass im April 1933 erlassene „Gesetz zur Widerherstellung des Berufsbeamtentums“ diente sowohl der Ausschaltung politischer Gegner als auch der Ausgrenzung jüdischer Bediensteter in Justiz und Verwaltung, Schule und Wissenschaft.
Georges-Arthur Goldschmidt berichtete später in seiner Autobiographie „Über die Flüsse“, dass er seine Mutter nie ohne eine gewisse Bangigkeit vorfand. Der kleine Junge verstand es nicht, wenn sich seine Mutter, eingeholt von ihren Ängsten, vom Sohn abwandte, ihn bemitleidete oder mit verwirrenden Aktivitäten überforderte. Schließlich machte sich der Junge für die Depressionen seiner Mutter verantwortlich und traktierte seine Umwelt mit Aggressionen. Erst eine andere Umgebung und die Begegnung mit anderen Menschen sollten Georges-Arthur aus seinen Verstrickungen befreien.
Schon in der Schule lernte Georges-Arthur Goldschmidt die Denunziation als Fundament des Nationalsozialismus kennen. Sie diente ebenso wie der Hitler-Gruß dazu, die „Feinde der Volksgemeinschaft“ zu entlarven und die Bevölkerung zu unterwerfen. Die Kinder waren, so das rückblickende Resümee, das privilegierte Instrument solcher „Gleichschaltung“. Skrupellos wurde ihre Begeisterungsfähigkeit ausgebeutet. Wer nicht mitmachen wollte, konnte sich nur ducken, um nicht aufzufallen. Der tägliche Lebensvollzug war sowohl verwirrend als auch durch Angst geprägt, die mit dem Gefühl eines nicht berechtigten Daseins einherging. Georges-Arthur Goldschmidt schildert das in seiner Autobiographie an einer im Grunde genommen banalen Begebenheit: „ Eines Tages voll hoher Sonne in Blankenese kamen auf dem mit Kieselsteinen bedeckten Hof nacheinander schwere schwarze Limousinen gefahren, aus denen uniformierte SA-Leute hüpften, eitel und eingebildet. Am Ende des Gartens hoben sie sich kackbraun vom schwarzen Hintergrund der Wagen ab. Mit vor panischer Angst zugenagelter Brust zwängte ich mich in das Gezweige hinein, das mir das Gesicht zerkratzte, ich wusste, würden sie mich sehen, würden sie mich sofort ins KZ schicken. Auf keinen Fall durften sie wissen, dass es mich gab. Zugleich wusste ich von nichts und ahnte doch genau, worum es ging. Die Gefahr hatte keine Geheimnisse für mich. Schon hatte ich vollauf das Gefühl, dass meine Existenz ungerechtfertigt war, dass ich verboten, abgeschafft gehörte“.
Der aggressive, sozialdarwinistisch und rassenbiologisch geprägte Antisemitismus der Nationalsozialisten führte über Diffamierung und Deklassierung, über Berufs- und Besitzverbote, über Ausgrenzung, diskriminierende Maßnahmen und Ghettoisierung schließlich zur systematischen Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges. In Deutschland kündigte sich das nicht zuletzt mit den Pogromen gegen jüdische Bürger im November 1938 an.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Georges-Arthur Goldschmidt zusammen mit seinem älteren Bruder Erich schon nicht mehr in Deutschland. Nachdem ihnen die Entfernung aus der Schule drohte, hatten die Eltern sich entschlossen, ihre jüngeren Kinder außer Landes zu bringen. Zunächst werden sie in Italien in Florenz bei dem emigrierten jüdischen Literaturwissenschaftler Paul Binswanger untergebracht, dessen Frau Ottilie eine kurze, aber entscheidende Rolle im Leben Goldschmidts spielen soll. Bei der Bildhauerin findet der junge Georges-Arthur Verständnis und Ruhe, wenngleich er ihre Annäherung an die Anthroposophie als Hingabe an gemeinschaftliche Illusionen kritisiert. „Ich empfand eine tiefe und respektvolle Liebe für sie“, schreibt Georges-Arthur Goldschmidt in seiner unsentimentalen Biographie ‚Über die Flüsse‘ später, „in ihr fand ich meine Mutter wieder, wie sie ohne Depressionen gewesen wäre, wohlwollend, aber doch im Grunde von großer Strenge und voll „pädagogischer Theorien“.
Im November 1938 bietet Florenz vor dem Hintergrund des deutsch-italienischen Freundschafts- und Bündnispakt auch keine hinreichende Sicherheit mehr, denn die antisemitischen Maßnahmen des faschistischen Regimes verschärfen sich. Die Binswangers zieht es nach Neuseeland, während die Goldschmidt-Kinder in Frankreich eine neue Heimstatt finden, wo man sie in Savoyen, zunächst in einem katholischen Internat in Annecy und schließlich bei Bergbauern, versteckt. Auf diese Weise entgehen die Kinder der sicheren Deportation.
Die Eltern verblieben trotz der Zwangspensionierung des Vaters, trotz der Ausgrenzung, insbesondere durch die sogenannten Nürnberger Gesetze, trotz der Verleumdungen und Herabsetzungen, trotz der Brandmarkung und der Einschränkungen des persönlichen Lebens, trotz der materiellen und seelischen Not in Deutschland. Ein erster Befehl zur Deportation nach Osten kann im Herbst 1941 abgewendet werden; unter dem dauernden Druck der Verfolgung und des sozialen Abstiegs, dem Verlust der Söhne und der steten Angst vor der Deportation stirbt indessen die Mutter Katharina-Maria, 1882 in Kassel geboren, Anfang Juni 1942. Eine Beerdigung auf dem Gemeindefriedhof fand sie nicht, obwohl sie eine tiefgläubige Protestantin war. Als „nicht arische Christin“ war die Mutter aus der Gemeinde ausgeschlossen worden, die Proteste des Vaters beim zuständigen Gemeindepastor halfen da wenig. Für die christliche Beerdigung sorgte schließlich ein Geistlicher, der auf Grund seiner jüdischen Abstammung durch die Evangelische Kirche selbst aus seinem Amt vertrieben worden war. Mitte Juli 1942 wird der Vater im Alter von 69 Jahren dann in das Konzentrationslager Theresienstadt abtransportiert, das lag bekanntlich im Norden der heutigen Tschechischen Republik. Die Jahre bis zur Befreiung des Konzentrationslagers überIebt der Vater, wobei möglicherweise die Übernahme der seelsorgerischen Aufgaben eines evangelischen Gemeindepfarrers im Lager eine wichtige Rolle gespielt hat. Im September 1945 kehrt er aus Theresienstadt nach Reinbek zurück, übernimmt Aufgaben bei der Entnazifizierung und in der kommunalen Politik, doch verbleibt ihm nur noch eine kurze Zeit bis zu seinem Tod im Februar 1947.
Die ältere Tochter, die seit 1929 mit dem späteren Kieler Philosophieprofessor Ludwig Landgrebe verheiratet war und die NS-Herrschaft überlebt hatte, konnte der Vater wiedersehen, ein Zusammentreffen mit seinen Söhnen hat er vor seinem Tod nicht mehr erlebt. Georges-Arthur Goldschmidts Wiederbegegnung mit Deutschland gestaltete sich nicht einfach: Er erriet, dass er nicht unbedingt willkommen war, ein „peinlicher Überlebender“, der möglicherweise den arisierten Besitz der Eltern zurückfordern würde. Wie sein Bruder verzichtete er auf die Rückgabe, „Ich bin aber sehr froh und war es schon immer, Deutschland nichts verdanken zu müssen“, so Goldschmidt später, „das wäre eine Art Anerkennung derer gewesen, die meine Abschaffung wollten, es wäre schließlich eine Legalisierung des Genozids gewesen“. Georges-Arthur Goldschmidt hielt es für einen „unverzeihlichen Fehler der Deutschen“ an die Nationalsozialisten statt an sich selbst geglaubt zu haben.
Für das allgegenwärtige „Opferbewusstsein“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft zeigte Georges-Arthur Goldschmidt wenig Verständnis, denn diese Menschen, die so sehr mit den Folgen von Niederlage und Besatzung beschäftigten, waren in der Vergangenheit von den vorbeifahrenden Zügen mit den Deportierten nicht sonderlich berührt. „Die Zeiten hatten sich“, bemerkte Georges-Arthur Goldschmidt, „anscheinend beträchtlich gewandelt, ich in meiner Kindheit hatte nur ein erschreckendes und beängstigendes Deutschland gekannt, trotz der Schönheit und der steten Neuheit von alledem, was mich umgab, wo man sich aber immer umdrehen musste, um zu sehen, wer einem folgte“. Opportunismus, Angst und Anpassung unter dem Nationalsozialismus waren auch für Georges-Arthur Goldschmidt verständlich, aber nicht der Drang der deutschen Gesellschaft zum Vergessen. „Ich verstand“, erkannte der von der „Absonderung“ geprägte, „dass ich nichts mehr zu suchen hatte in diesem Land, das nicht mehr meines war, das mir im Tiefsten meiner selbst fremd geworden war und dessen Eingeschlossen sein in erlernten Konventionen und der Fähigkeit des Vergessens mir Furcht einjagte“. Eine neue Heimat fand Georges-Arthur Goldschmidt in Frankreich, das Erinnerung an seine Beschützung bedeutete, das ihn frei über sich selber entscheiden ließ und ihm Zukunft versprach.
Georges-Arthur Goldschmidt hat vielfach über seine Erlebnisse und Erfahrungen in den Jahren der „Absonderung“ berichtet, wie er in einer Erzählung die Erfahrungen eines Kindes zu umschreiben versucht, das Opfer der Willkürmaßnahmen der nationalsozialistischen Diktatur wird und lernen muss, die Rolle des Opfers zu akzeptieren. Die Sprache, in der er sich mitteilt, ist aber zukünftig das Französische. Selbst seine Autobiographie erscheint zunächst in französischer Fassung, erst Jahre später in eigener Übersetzung als deutsche Ausgabe. Das Französische war für Goldschmidt die Sprache der Befreiung und des Widerstands, die ihm das Deutsche „wie unversehrt“ zurückschenkte. Sprache ist ihm aber überhaupt nicht Ausdruck von Zugehörigkeit, sondern genuiner Bestandteil menschlichen Seins. Diese Zuordnung kann der Sprache letztlich auch nicht durch die Erfahrung der Barbarei genommen werden, sie bleibt „unverloren“, bedarf aber des Wieder brauchbar Machens von außen, mit dem sich erst Menschlichkeit wieder einstellen kann. Da die deutsche Sprache erhalten blieb und sich zum Gegenstand der eigenen Arbeit als Übersetzer entwickeln konnte, eröffneten sich Georges-Arthur Goldschmidt schließlich auch wieder Formen der Begegnung mit dem Land, das ihm einst als Kind die Berechtigung zum Deutschen genommen hatte.
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Der Essay von Berthold Grzywatz zum Leben von Georges-Arthur Goldschmidt ist der überarbeitete Text einer Einführungsrede, die Berthold Grzywatz anlässlich eines Besuchs von Georges-Arthur Goldschmidt in Rendsburg im Januar 2008 hielt. Georges-Arthur Goldschmidt war zur zentralen Gedenkveranstaltung des Landes Schleswig-Holstein eingeladen, die der Landtag zusammen mit der Stiftung Landesmuseen und der Landeszentrale für politische Bildung veranstaltete. Dabei suchte Georges-Arthur Goldschmidt auch das politische Gespräch mit den Schülern einer Rendsburger Schule.