An dieser Stelle erscheinen Essays, die in meiner Berliner Zeit geschrieben wurden. Sie beschäftigen sich einerseits mit der Erinnerungsrealität und Gedenkformen in der postdiktatorischen Gesellschaft der Bundesrepublik oder reflektieren die Begegnung mit Auschwitz und dürften ihre Aktualität kaum verloren haben. Andererseits sind es Texte, die vor dem Hintergrund der noch geteilten Stadt Berlin entstanden sind, aber vor dem Hintergrund ihrer Neudefinition als Bundeshauptstadt auf künftige Identitätsbildung und die Auseinandersetzung mit der widerspruchsreichen Geschichte der Stadt Bezug nehmen. Vor diesem Hintergrund und in einer kritisch-reflektierenden Rückschau mögen diese Texte daher von Interesse sein. Die Erscheinungsorte waren nicht Foren der Wissenschaft, sondern Zeitschriften die sich in Politik und Kultur der Bundeshauptstadt einmischten.
Essays written during my time in Berlin appear here. On the one hand, they deal with the reality of remembrance and forms of commemoration in the post-dictatorial society of the Federal Republic of Germany or reflect on the encounter with Auschwitz and are unlikely to have lost their topicality. On the other hand, these are texts that were written against the backdrop of the still-divided city of Berlin, but against the background of its redefinition as the federal capital, refer to future identity formation and the confrontation with the city's contradictory history. Against this background and in a critically reflective retrospective, these texts may therefore be of interest. The places of publication were not forums of scholarship, but journals that interfered in the politics and culture of the federal capital.
Berthold Grzywatz
Die Verfolgten des Nationalsozialismus in der Postdiktatur – eine Skizze
...In der unmittelbaren Nachkriegsperiode prägt eine gesamtdeutsche Perspektive die Politik der ehemals Verfolgten. Die erfahrungsgeschichtlich begründeten Leitvorstellungen brechen aus den tradierten Politikmustern der Weimarer Zeit aus und suchen die nationalstaatliche Bindung politischen Handelns zu überwinden. Sie erweisen sich als eine belastungsfähige, im Modell der durch gesellschaftspolitische Ziele begründeten Überparteilichkeit praktisch wirksam werdende Klammer gemeinschaftlichen Agierens. Erkennbare politische Instrumentalisierungen der NS-Verfolgten können auf diese Weise für längere Zeit überbrückt werden. Das als Stigma fortwirkende Verfolgungsschicksal, aber auch das gesellschaftlich isolierende Einfordern einer Sonderstellung in dem durch Vergangenheitsbewältigung gekennzeichneten sozialen Umfeld wirken darüber hinaus als integrative Faktoren...
...In the immediate post-war period, the politics of the former persecutees were shaped by an all-German perspective. The guiding principles based on experience break out of the traditional political patterns of the Weimar period and seek to overcome the nation-state bond of political action. They prove to be a resilient, practically effective bracket of communal action in the model of non-partisanship based on socio-political goals. In this way, recognisable political instrumentalisation of those persecuted by the Nazis can be bridged for a longer period of time. The fate of persecution, which continues to have an effect as a stigma, but also the socially isolating demand for a special position in the social environment characterised by coming to terms with the past, also act as integrative factors....
Berthold Grzywatz
Die Kontinuität des Erinnerns – eine Forschungsstrategie.
...In gewisser Weise vereinigt die Historie der Verfolgtenverbände die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Widerstands. Einerseits organisatorischer Ausdruck der Kontinuität des Widerstandserbes und seiner praktischen Umsetzung im politischen Engagement für eine freiheitlich demokratische Ordnung, eröffnet sie andererseits den Zugriff auf die verschiedenen Facetten der Wahrnehmung des Widerstands in der Bundesrepublik. Einer Wahrnehmung in doppelter Perspektive: nach innen erhellt sie die Selbstreflexion über die Wirkungen der eigenen Deutungsmuster, während sie nach außen den Blick auf die Konfrontation mit dem Bild des Widerstands in der Gesellschaft und seines Wandels eröffnet...
...In a certain sense, the history of the associations of persecutees unites the history of the resistance's impact and reception. On the one hand, it is an organisational expression of the continuity of the resistance heritage and its practical implementation in political commitment to a free democratic order; on the other hand, it opens up access to the various facets of the perception of the resistance in the Federal Republic. A perception in a double perspective: internally it illuminates the self-reflection on the effects of one's own patterns of interpretation, while externally it opens up the view of the confrontation with the image of resistance in society and its change...
Berthold Grzywatz
„Im Anblick von Opfern kann kein schlechtes
Gewissen wachsen“.
Die deutsche Nachkriegsgesellschaft und die NS-Verfolgten
...Das nicht ermüdende Widerstreben der Verfolgten gegen das Vergessen, ihre aus dem Widerstand gegen das diktatorische Regime abgeleitete Pflicht zur ständigen Mahnung, Freiheit, Recht und Menschenwürde zu erhalten, Rechtsextremismus und Antisemitismus hingegen zu bekämpfen, ließ sie in den Augen der Nachkriegsdeutschen zu einem "nörgelnde(n) Fremdkörper" werden, der das Kapitel "unbewältigte Vergangenheit" bewusst übertrieb. Das Verdikt, ein Volk könne erst dann klare Entscheidungen für die Gegenwart treffen und eine sichere Zukunft bauen, wenn es mit seiner Vergangenheit fertig geworden ist, war von einer Gesellschaft, die sich in einem mühsamen Prozess der Demokratisierung befand, der ungelösten Frage nach den Formen der Integration ehemaliger Nationalsozialisten gegenüberstand und angesichts der sich zum Trauma ausweitenden Kenntnis der Schuld nicht die Entschlossenheit aufbrachte, die demokratische Republik durch einen radikalen Bruch administrativer Kontinuitäten sowie durch eine konsequente Entnazifizierung in ihrem Aufbau zu befestigen, nur schwer zu akzeptieren...
...The never-tiring resistance of the persecuted against forgetting, their duty derived from their resistance against the dictatorial regime to constantly admonish to preserve freedom, justice and human dignity, while fighting right-wing extremism and anti-Semitism, made them a "nagging foreign body" in the eyes of post-war Germans, who deliberately exaggerated the chapter "unresolved past". The verdict that a people could only make clear decisions for the present and build a secure future once it had come to terms with its past was difficult to accept from a society that was in the middle of a laborious process of democratisation, faced the unresolved question of the forms of integration of former National Socialists and, in view of the knowledge of guilt that was becoming a trauma, did not muster the determination to fortify the democratic republic in its construction through a radical break in administrative continuities as well as through a consistent denazification...
Berthold Grzywatz
Politik der Besorgnis.
Die demokratische Gesellschaft und die Verfolgten des Nationalsozialismus
...Der infolge verbandlicher Desorganisation ausgelöste politische Immo-bilismus der Verfolgten potenziert sich gleichsam durch die Enttäuschung über die Missachtung berechtigter Ansprüche. Die gesellschaftliche Ignoranz gegenüber der Wiedergutmachungspflicht und die „Pervertierung des Wiedergutmachungsgedankens“ (Franz Böhm) seitens der Regierung, die in den Verhandlungen mit den Alliierten erzwungene Abstriche bei der Entschädigung als Erfolge verbucht, fördert das Gefühl politisch-gesellschaftlicher Isolation unter den Verfolgten. Diese Erfahrung ist im wesentlichen dafür verantwortlich, dass die Verfolgten mit einer gesteigerten Sensibilität auf die politische Entwicklung in der Bundesrepublik reagieren und angesichts der amnestierenden Integrationspolitik zu einer, mitunter radikal abweichenden Einschätzung über die politische Entwicklung der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie in den fünfziger Jahren kommen...
...The political immobilism of the persecuted, triggered by the disorganisation of the associations, was intensified by the disappointment over the disregard of justified claims. The social ignorance of the obligation to make reparations and the "perversion of the idea of reparations" (Franz Böhm) on the part of the government, which in the negotiations with the Allies counted forced reductions in compensation as successes, promoted the feeling of political and social isolation among the persecuted. This experience is essentially responsible for the fact that the persecutees react with increased sensitivity to political developments in the Federal Republic and, in view of the amnestying integration policy, come to a sometimes radically different assessment of the political development of the Federal German post-war democracy in the 1950s....
Berthold Grzywatz
Die Zeitgeschichte und die Verfolgten des
Nationalsozialismus
...Öffentliche Aufmerksamkeit gewannen die politisch, religiös und rassisch Verfolgten in der Bundesrepublik durch die gesellschaftliche Verpflichtung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Für die NS-Verfolgten stellte die Wiedergutmachung einen festen Bestandteil des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland dar. Nach ihrer Auffassung war die Wiedergutmachung weder von der Entnazifizierung noch in einem umfassenderen Sinn als Rechtsrestitution von der Etablierung der Demokratie zu trennen. Die Anerkennung der kollektiven Haftung für die nationalsozialistischen Verbrechen, ihre Umsetzung in geltendes Recht sowie ihre Konkretisierung in materiellen Leistungen bildeten gleichsam eine Funktion gesellschaftlicher Erneuerung und Reform.
Die Besatzungsbehörden, insbesondere die amerikanische Militärregierung lieferte den Bauplan für die Begründung und weitere Entwicklung der Wiedergutmachungsgesetzgebung. Ihre Zielsetzungen waren nicht nur eine Frage der Wiederherstellung des vor der Verfolgung bestehenden Zustands und der Rehabilitierung der zur Emigration gezwungenen Verfolgten, sondern auch integrationspolitisch motiviert. Es sollte verhindert werden, daß durch das Verfolgungsschicksal und die Unzufriedenheit über den fehlenden Ausgleich erlittenen Unrechts dauerhaft eine Gruppenidentität gefördert wurde, welche den NS-Verfolgten zwangsläufig eine Sonderstellung in der Nachkriegsgesellschaft zuwies...
...The political, religious and racial persecutees in the Federal
Republic of Germany gained public attention through the social obligation to make reparations for National Socialist injustice. For those persecuted under the Nazis, reparations were an integral part
of social change in Germany. In their view, reparation could neither be separated from denazification nor, in a broader sense, from the establishment of democracy as restitution of rights. The
recognition of collective liability for National Socialist crimes, their implementation in applicable law and their concretisation in material benefits formed, as it were, a function of social
renewal and reform.
The occupation authorities, especially the American military government, provided the blueprint for the establishment and further development of the Wie-dergutmachungsgesetzgebung. Its objectives
were not only a question of restoring the status quo before the persecution and rehabilitating the persecuted who had been forced to emigrate, but were also motivated by integration policy. The aim
was to prevent the fate of persecution and dissatisfaction over the lack of compensation for injustice suffered from permanently fostering a group identity that inevitably assigned those persecuted
under the Nazis a special position in post-war society...
Berthold Grzywatz
Zwischen antirestaurativem Korrektiv und sozialer Existenzsicherung.
Die NS-Verfolgten in Ost und West nach Kriegsende.
Die Frage nach der Funktion der NS-Verfolgten in der deutschen Politik muss in Verbindung mit einer historisch-genetischen Analyse ihrer Wirkungsgeschichte gesehen werden. Die Entstehung der Verfolgtenverbände, ihre organisatorische Konsolidierung und öffentliche Einflussnahme ist daher im Zusammenhang mit den Entwicklungsbedingungen einer postdiktatorischen Ordnung und im Spannungsverhältnis zu den seitens der NS-Verfolgten und in der Emigration entwickelten Vorstellungen über die Ziele künftiger gesellschaftlicher Demokratisierung zu diskutieren – auch im Hinblick auf die aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus und Rechtsradikalismus...
...The question of the function of the Nazi persecutees in German politics must be seen in connection with a theoretical-genetic analysis of their history of impact. The emergence of the persecutees' associations, their organisational consolidation and public influence must therefore be discussed in the context of the developmental conditions of a post-dictatorial order and in tension with the ideas developed by the Nazi persecutees and in emigration about the goals of future social democratisation - also with regard to the current manifestations of anti-Semitism and right-wing radicalism...
Berthold Grzywatz
Erinnerungsrealität und Gedenkformen.
Reflexionen zu einer Begegnung mit Auschwitz
...Wenn die zeitliche Distanz überhaupt den Blick für das Gesamtgeschehen eines verbrecherischen Systems schärft, wie muss dann erst der in dieser Ferne stehende Historiker sensibilisiert und bestrebt sein, einen Ausweg in einem "Negativpatriotismus‘“ zu suchen oder sich mit Abscheu von der Geschichte des eigenen Volkes abzuwenden? Die Begegnung mit Polen, mit polnischen Historikern und Bildungsarbeitern, ist zudem durch komplexe Problemlage belastet, die generell weniger die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Austausches und Dialogs als die unterschiedlichen Zugänge auf die Geschichte des Nationalsozialismus und dessen Stellung in der jeweils eigenen Geschichte berühren.
Unmöglich, dass die in Polen erhaltenen Folter- und Vernichtungsstätten von deutscher Seite als Mahnmale der Versöhnung begriffen werden können. Auch der von Helmut Schmidt bei seinem Auschwitz-Besuch in den siebziger Jahren geäußerte Gedanke, dass Versöhnung und Holocaust in einem Zusammenhang stehen müssen, ist kaum geeignet, Wege der Verständigung zu weisen. Ein solcher Versuch hätte letztendlich zur Folge, den singulären Charakter der Judenvernichtung ebenso auszublenden wie die besondere Verantwortung der Deutschen sie als eigenes Werk anzuerkennen...
...If the temporal distance at all sharpens the view of the overall events of a criminal system, how must the historian standing in this distance be sensitised and anxious to seek a way out in a "nega-tive patriotism" or to turn away in disgust from the history of his own people? The encounter with Poles, with Polish historians and educational workers, is also burdened by complex problems that generally affect not so much the possibilities of academic exchange and slide shows as the different approaches to the history of National Socialism and its position in each country's own history.
It is impossible for the torture and extermination sites preserved in Poland to be understood by the German side as memorials of reconciliation. The idea expressed by
Helmut Schmidt during his visit to Auschwitz in the 1970s, that reconciliation and the Holocaust must be connected, is also hardly suitable for pointing the way to understanding. Such an attempt
would ultimately have the effect of ignoring the singular character of the extermination of the Jews as well as the special responsibility of the Germans to recognise it as their own
work...