Sprechen wir von Spur, denken wir spontan an Abdrücke im Bo-den, an den Verkehr, die Daten-verarbeitung oder an die Straf-verfolgung und Verbrechensbe-kämpfung, indem wir Anhalts-punkte für die Aufklärung eines Geschehens ausfindig machen. Spuren verweisen uns aber auch auf die Veränderung von Dingen, auf Anzeichen für Zustände, die in der Vergangenheit liegen. Spuren können also, wie die ursprüngliche Bedeutung des Wortes meint, hinterlassene Zeichen sein und damit stellt der Begriff einen Zusammenhang mit Erinnerung und Geschichte her.
Das kritische Gegenwartsbewusstsein, das sich über sich selbst aufzuklären versucht, bedarf zu seinem Ermöglichen der Erinnerung. Sie wird zum tragenden Moment kritischer Aufklärung, indem sie die Beziehung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit aufbricht und das Vergangenheitsbewusstsein entstehen lässt. Die Erinnerung an die „Leidensgeschichte der Welt“ wird, wie Walter Benjamin schrieb, zum vermittelnden Element von Vernunft und Freiheit.
Das Erinnern räumt uns die Möglichkeit ein, die Macht der gegebenen Tatsachen zu durchbrechen, um Einsicht für Veränderungen zu gewinnen. Aber nur, wo zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein stetiger Zusammenhang besteht, die Vergangenheit uns also etwas bedeutet, erscheint eine historische Reflexion möglich, mithin ein Begreifen des Gegenwärtigen von seiner Geschichte her. Diese kann uns folglich nicht gleichgültig sein, schon gar nicht darf sie in einem technologischen Gegenwartsbewusstsein entsorgt werden. Die Vergangenheit ist Grund für Gespräch und Reflexion, sie ist Bezugspunkt für einen Prozess des Erkennens, der sich den realen Fragen der Zeit stellt und auf zukunftsorientiertes Handeln setzt.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte muss nicht unmittelbar ein Mehr an Menschlichkeit zur Folge haben. Auch können wir dadurch nicht eine direkte Beantwortung unser Lebensfragen erwarten, aber, soweit wir vom Leben, von unserer gesellschaftlichen Praxis ausgehen, kann diese Auseinandersetzung helfen, uns zu „entschränken“. D. h., sie befähigt uns, mich und meine Vorurteile zu hinterfragen, vom Besonderen meines eigenen Ichs abzusehen und einen Blick für das Allgemeine zu erwerben. Wir können uns gleichsam zeitgemäß verstehen und über das historische Denken Lösungen für Probleme finden, die sich aus der besonderen Form unserer Gegenwart hinsichtlich der Zukunft ergeben.
Die Rolle der Kunst ist die Rolle der Entfremdung gegenüber der Welt der realen Auseinandersetzungen, erklärt Walter Schulz. Nehmen wir diesen Gedanken auf, wäre in Erinnerung unseres Eingangsbegriffs „Spuren“ zu fragen, auf was damit verwiesen werden soll. Welche Zeichen, welche Anhaltspunkte finden wir? An welche Vorgänge, an welche Zustände werden wir erinnert? Werden wir auf Stellungen und Linien oder auf Defizite aufmerksam gemacht, wenn wir uns noch einmal die Bandbreite der Bedeutungen des Begriffs „Spuren“ vor Augen führen?
Aber bevor wir hier Antworten finden, sollten wir die Bemerkung „zur Rolle der Entfremdung“ aufnehmen. Was ist damit gemeint? Schulz sieht die Kunst als ein Randphänomen des gesellschaftlichen Gesamtgeschehens, die im öffentlichen Bewusstsein keinesfalls mit der Lebensbedeutung der Wissenschaft konkurrieren kann. Sie ist „haltlos“, „gegenstandslos“ und somit „folgenlos“; aber gerade in ihrer Folgenlosigkeit liegt, so die vielleicht überraschende gedankliche Wendung, ihre zeitgemäße Funktion, da sie auf diese Weise befreiend wirken kann. Nicht in dem Sinne, dass sie von der Wirklichkeit enthebt, verbunden mit einem Ausbruch von Melancholie, sondern dass sie Begegnung ermöglicht, Begegnung mit dem Allgemein-Menschlichen und der Gültigkeit alles Menschlichen – eine Begegnung, die immer Teil unserer Existenz ist. Sie schließt den Widerspruch nicht aus, den zwingenden Blick auf den Unterschied von Sein und Sollen, von Wirklichkeit und Forderung.
Spuren vermitteln über das Erinnern Erfahrungen und Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte und geben möglicherweise Anstoß zu einer ethisch gebundenen Orientierung. Berthold Grzywatz geht von der Unsicherheit gegenwärtiger Existenz aus. Werke wie „Gespalten“, „Abwehr“ oder auch „Dominanz“ mit ihren offenen Formen, Materialgegensätzen und gebrochenen Texturen verhandeln die Wirkungen eines Konsensverlustes, der zugleich die Gefährdung der Integration stiftenden Werteordnung bedeutet. Dieser Verlust ist einerseits den politischen Krisenherden unserer Zeit geschuldet, andererseits erweist er sich aber – und das ist langfristig viel entscheidender – als eine soziale Folge der Globalisierung. Von Armut geprägte Menschen hoffen auf Teilhabe am Wohlstand, ohne dass dieses Bedürfnis auf allgemeine Akzeptanz trifft. Gegenüber einer durch Abgrenzung und Verweigerung genährten Radikalisierung muss genetisch an den Entwicklungszusammenhang des Wohlstands und unserer Werteordnung erinnert und in der Gegenwart ein rationales Handeln erzwungen werden. Wie schwierig sich diese Veränderung gestaltet, lassen Skulpturen wie „Brücke“ und „Wiedervereinigung“ ahnen, die vom Moment der Annäherung ausgehen, dennoch in ihrer Zerrissenheit zugleich die Brüchigkeit dieses Prozesses erkennen lassen.
Die Titel der gezeigten Skulpturen, die vom Künstler nicht ohne Grund gewählt wurden, müssen gerade unter dem Zeichen einer nicht identifizierbaren Gegenständlichkeit als Verstehenshinweise gedeutet werden. Sie geben Aufschluss über die werkimmanente Problematik und die darüber hinausgehende inhaltliche Intention; sie sind Ausdruck vom Bewusstseinsraum sowie vom Wirklichkeitsverständnis des Künstlers. Dabei ist zu beachten, dass das individuelle Werk bei Berthold Grzywatz häufig zyklisch eingebunden und einer übergreifenden Thematik unterworfen ist.
Im Hinblick auf die fotografischen Arbeiten von Berthold Grzywatz wird dies insofern deutlich, als ein Grundthema in Variationen entfaltet wird. Gleichwohl folgt die Bildabsicht der grundlegenden Absicht, während die Variation das Sehen des Betrachters intensivieren soll – sowohl in Anbetracht der Dinge selbst als auch in Hinsicht auf dessen inneres Erleben.